Rudolf Leonhard

Das Werk Heinrich Manns

»Aber er, der ehemals lachend den
Lästerungen getrotzt hat, würde heute
wohl mit Lächeln den Ruhm hinnehmen,
der selten mehr ist als ein
weitverbreiteter Irrtum über unsere
Person.«

Heinrich Mann über Choderlos de Laclos.

Seitdem der Roman aus der quellenden Unordnungeines gereihten Berichts zahlreicher, zählbarer Ereignissezu einer Kunstform beschränkt wurde, ist er nurvoller, erfüllter geworden: hat er, in höherem Sinne alseine andre Form, die Totalität des Kunstwerks gefunden.— Anders als im Drama, vergleitet in ihm das Ereignisund steht ohne Auszeichnung zwischen Zuständen;und die Auswahl, deren Gesetz auch er unterstellt ist, geschiehtbreiter, vielleicht weniger scharf und gewiß wenigerbeschränkt. Und so ist seither — auch deshalb schon, weil ernäher als irgendeine Kunstform dem Gange des Lebenszugeordnet ist — natürlich eigentlich nur die Rundungund Vereinigung von jedes Dichters epischem Bekenntnisin einem Roman. So hat Mörike einen Roman bescheidengeschrieben, hat Schlegel die eine Luzinde hinterlassen,die nicht formlos, sondern monströs ist, der ersteRoman vom Blute des neunzehnten Jahrhunderts, dererste zynische Roman nach den pädagogischen; Novalisden einen Ofterdingen, den er nicht vollendete; undGoethe hat die drei Leben, die er eins hinter das andregesetzt hat, jedes in einem Roman festgestellt. Dies istnatürlich; der Roman ist angelegt, der Ertrag einesLebens zu sein, und dies waren nur Beispiele; es ließesich zeigen, daß manches an Nummern reichere Werk dochum den einen Roman gruppiert ist, mit andern Romanen,die Wiederholungen, Ergänzungen, Verwicklungenund Abschweifungen darstellen, und Übertragungen:wie etwa Thomas Manns Königliche Hoheit,bei aller Verschiebung, Entwicklung und Umfärbung,eine Wiederaufnahme der Buddenbrooks ist. Entgegenscheint nur das umfangreiche Werk der großen epischenNaturen zu stehn, erbaut zu einer Reihe — meist an Tonund Umfang sogar, nicht nur an Art und Kompositiongleicher Romane, deren keiner vor dem andern ausgezeichnetscheint. Für die Novelle ist es die Ausnahme,daß sie allein bestehn muß; ihre Notwendigkeit ist dieSammlung, der Band, ihr Gesetz ist die Gruppe. IhrStreben zum Absoluten erfüllt sich auf dem Wege derErgänzung und ausfüllenden Relation, denn sie hatzwar die formale Totalität jedes Kunstwerks, nicht aberdie stoffliche: selten ist das Faktum, in dem ihr Bau gipfelt,von so einziger Rundheit und Strahlkraft, daß inihr selbst die Einzigkeit des schöpferischen Willens vollendetsteht. Dem Roman wieder ist die stoffliche Totalität,die Vollständigkeit des Weltbildes — die kraft derKunstmittel dem Gesetz, daß Kunst Auswahl ist, so wenigwiderspricht wie die Kunst der Welt — selbstverständlich.Aber große epische Naturen zwingen, eigenwillig beialler dienenden Objektivität, das Gesetz ihrer Totalitätdem Roman auf und nötigen den einzelnen Roman,ungenügsam vor dem abgeschlossenen, in der endlosen Fülleihrer Anschauung in die Reihe. Für sie ist der Roman,so geschlossen und undeutelbar sein eignes Leben auchsteht, nur Kapitel im Werke; und es ist natürlich, daßsie, falls das Leben ihnen Vollendung gönnt, einen Titelüber die ganze Reihe setzen; sei es die Geschichte nur derRougon Macquarts, sei es die ganze Comédie humaine.In der Tat gehört der Vater Goriot zu Eugénie Grandetwie die Grenadière zur Peau de Chagrin. Diese Romanreihendes naturwissenschaftlichen Jahrhunderts, in einemLande entstanden, das zuerst die bürgerliche Wirtschaft, diebürgerliche Gesellschaft, die Herrschaft des Bürgertumsvollendete, sind Musterfälle des deskriptiven Romans.Sie finden ihre Einheit und Totalität in der Fülle desbürgerlichen Lebens selbst, in der Vollständigkeit derTypen, der

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