Wilhelm Raabe
Alte Nester
Volksausgabe
Wilhelm Raabe
Zwei Bücher Lebensgeschichten
Ein Freund von mir begleitete einmal Goethen aufeinem Spaziergange. Unterwegs stießen sie auf einenarmen Knaben, der am Wege saß, den Kopf in denHänden und die Arme auf die Kniee stützend. Junge,was machst du da? worauf wartest du? rief GoethesBegleiter. — Worauf sollte er warten, mein Freund?nahm Goethe das Wort. Er wartet auf menschlicheSchicksale. —
O. L. B. Wolff.
Allgemeine Geschichte des Romans, von
dessen Ursprung bis zur neuesten Zeit.
21.-25. Tausend der
Volksausgabe
Berlin-Grunewald
Verlagsanstalt Hermann Klemm A.-G.
Dieses Werk wurde gedruckt in der Offizin G. Kreysing in Leipzig.
Den Einband fertigte H. Fikentscher in Leipzig.
Eine Blume, die sich erschließt, macht keinen Lärm dabei; auchdas, was man von der Aloe in dieser Beziehung behauptet,halte ich für eine Fabel. Auf leisen Sohlen wandeln die Schönheit,das wahre Glück und das echte Heldentum. Unbemerktkommt alles, was Dauer haben wird in dieser wechselnden,lärmvollen Welt voll falschen Heldentums, falschen Glücks undunechter Schönheit; und es ist kein eitles, sich überhebendes Wort,was ich hier zu Anfang dieser Blätter hinsetze; denn es sind dieLebensgeschichten anderer Leute, die ich beschreiben will, nicht meineeigenen. Das Heldentum und die Schönheit der Rolle, die ichdabei abspiele, lassen sich wohl halten in der hohlen Hand. Abereines ist auch wahr und darf gesagt werden: Glück, viel Glück habeich wohl nicht gehabt, aber doch dann und wann mein Behagen,meine Belustigung und meine Ergötzlichkeiten; und das alles istgleichfalls ganz natürlich und ziemlich unbemerkt gekommen undgegangen, — so daß es heute, in den gegenwärtigen stillen, nachdenklichen,überlegenden Stunden nichts Erstaunenswürdigeresfür mich gibt als mein unleugbar vorhandenes Wohlgefallennicht nur an der Welt, sondern auch immer noch an mir.
Mein erstes Aufblicken in dieser Welt fällt in die Zeit derGründung des deutschen Zollvereins, also in den Anfang dervierziger Jahre dieses Säkulums. Wer eine Ahnung davonhatte, daß aus dieser anfangs etwas unbequemen und viel bestrittenenInstitution einmal das einige Deutsche Reich aufwachsenkönne, behielt dieselbe ruhig für sich, und eine kleine Ausnahmemachte da vielleicht nur ein kleiner Mann im Ministerium derauswärtigen Angelegenheiten in Paris, Mr. Louis AdolpheThiers genannt. Das deutsche Volk ließ sich murrend, wenn auchnach seiner Art gutwillig, die ersten Lebensbedürfnisse und vorallem das Salz durch den segensreichen politischen Schachzugverteuern.
Da war nun so ein Stätlein (auf die Landkarte bitte ichdabei nicht zu sehen), das diesem „preußischen Verein“ beigetretenwar, aber seine Planetenstelle nicht verändern konnte, sondernliegen bleiben mußte, wo es lag: nämlich ganz und gar umgebenvon einem anderen Staat, der nicht „beigetreten“ war, und dasjunge Reichsvolk von heute hat gottlob keine Idee davon, wasdas seinerzeit bedeutete, obgleich es eigentlich noch gar so langenicht her ist. Zog der eine de