Von
Leopold von Ranke
Neu herausgegeben
von
Friedrich Meinecke
Im Insel-Verlag zu Leipzig
Rankes Aufsatz »Die großen Mächte«, der zu den Kleinodien unsrerNationalliteratur gehört, erschien im Jahre 1833 und eröffnete den zweitenBand der von ihm herausgegebenen »Historisch-politischen Zeitschrift«. Ertrat mit dieser Zeitschrift aus der Stille der Forschung, in der er bishergelebt hatte, auf den Kampfesboden der politischen Parteien in Preußen undDeutschland, nicht um sich einem der beiden miteinander ringenden Heerlageranzuschließen, sondern um beiden einen höhern Punkt zu zeigen, von dem ausdie beanspruchte Allgemeingültigkeit und dogmatische Sicherheit der hübenund drüben aufgestellten Parteiideale verblassen mußten und viel größereund lebendigere Erscheinungen dem Blicke aufstiegen. Hie Autorität,hie Volkssouveränität, so war nach der Julirevolution der Gegensatz derMeinungen. Alles politische Leben sollte darin aufgehen, sei es den vonGott gewollten, sei es den vom Volke gewollten Staat zu verwirklichen.Im letzten Grunde kämpften dabei die alten und die neuen Schichten derGesellschaft um die Macht im Staate. Aber sie führten diesen realen Kampfmit einer Ideologie, die das Wesen des Staates selbst gefährdete, schonweil sie den innern sozialen Gegensätzen eine politische Schärfe undgeistige Unduldsamkeit gaben, die ihr Zusammenwirken im Dienste des Ganzenunmöglich machten. »Die Extreme geben den Ton an,« schrieb Ranke in demPlane für die neue Zeitschrift, »das eine vielstimmiger als jemals: trotzigauf die Siege, die es erfochten hat, und auf den Beifall der großenMenge; das andre zwar in heftiger, aber unleugbar schwacher und nur immeraufreizender Opposition. Es sind zwei Schulen, die sich bekämpfen: weit undbreit, in mancherlei[S. 4]Nuancen, haben sie den Boden eingenommen. Die Scholastik dermittlern Jahrhunderte beschäftigte sich, die intellektuelle Welt ihrenDistinktionen zu unterwerfen: diese neue Scholastik ist bemüht, die realeWelt nach ihren Schulmeinungen einzurichten.« Ranke war nicht gemeint, denWahrheitsgehalt, den die damalige liberale wie die damalige konservativeStaatsansicht in sich hegen mochten, zu bestreiten; nur ihrem Anspruch aufAlleinherrschaft wollte er sich widersetzen. Er wollte ihnen zeigen, daßder Staat nicht nach Schulmeinungen, sondern durch reale Kräfte geschaffenwird, daß es deswegen keinen Normalstaat gibt, sondern daß jeder Staateine lebendige, individuelle Wesenheit für sich ist, die sich nacheigenen Gesetzen und Bedürfnissen entwickelt. Dies Programm des modernenhistorischen Realismus wurde damals nur von wenigen verstanden. Aber eswurde von Bismarck in die Tat umgesetzt und ist durch Ranke zur Grundlagealles echten historischen, durch Bismarck zur Grundlage alles unbefangenenpolitischen Denkens geworden. Neue Schulmeinungen und Ideologien sindseitdem wohl wieder aufgestiegen und haben es zurückdrängen wollen. Dieneueste Ideologie dieser Art ist uns im Weltkriege entgegengetreten, wounsre Gegner aus dem Versuche der alten fundierten Weltmächte, die neuewerdende Weltmacht zu unterdrücken, einen Kreuzzug der internationalenDemokratie gegen den rückständigen autori