Sophie Hoechstetter
Kapellendorf
Roman
von
Sophie Hoechstetter
München u. Leipzig
bei Georg Müller
1908
[S. 1]
Dort, wo immer der Wind weht, ein zärtlicher Sommerwind, der denThymian berührt und heiße Luftwellen über das reifende Korn streifenläßt, dort, wo Herbst- und Frühlingsstürme die Melodie von Fernweh undHeimweh singen und die einzigen Töne des Lebens zu bringen scheinen— in der weiten Flurhochebene alten weimarischen Landes liegt dieWasserburg Kapellendorf.
Ein früher Barockbau von fürstlicher Größe steht geborgen hinterdem Wassergraben. Noch über dem hohen Hause erhebt sich in geraderEinfachheit die Kemenate. Auf der andern Seite schaut der Normannenturmins Dorf. Vor dem Tor beschatten Pappeln den Weg. Im Burghof schmiegensich Linden an die Schloßmauern.
In dem kleinen verfallenen Mauergärtlein vor der Kemenate saßen aneinem Vorfrühlingsabend zwei Kinder. Man ließ der Fünfzehnjährigen unddem Burschen Klemens dies glückliche Vorrecht gern. Niemand war darangelegen, ihre Entwicklung zu[S. 2] beschleunigen. Ihnen beiden schien inihren innersten Gedanken das Erwachsensein für sie selbst wie eine Artvon Erniedrigung. Sie hatten es im Instinkt, daß junge Unmittelbarkeitbesser ist als die Weisheit derer, die sie verloren.
Klemens rauchte. Nicht, weil es männlich war, sondern weil es ihm sogut schmeckte wie Äpfel und Birnen. Die gab es noch nicht. Er botLeonore eine Zigarette an — das Dutzend kostete einen Groschen und dieFrühlingsluft verwehte ihre Bitterkeit bald.
„So vor der Konfirmation, es ist ja dumm, das weiß ich. Aber dieGroßeltern fänden es gewiß ungut.“
„Du bist doch kein Fräulein, Leonore, und der Pastor pafft den ganzenTag. Als ob es was anderes wäre, Zigaretten zu rauchen als Kaffee zutrinken. Borniert einfach.“
Leonore nahm eine Zigarette. Erstens liebte sie sie ebenso wie Äpfelund Birnen, zweitens konnte sie nicht wohl ihrem Freunde sagen, daß sienicht immer der Konfirmation und der Religion so überlegen war wie inden Gesprächen mit ihm.
„Dankmar ist wirklich nett, daß er mit dem Vetter nach Weimar ging. Erlangweilt sich doch zum Sterben dabei.“
„Ach, Dankmar. Den haben wir doch gern. Der ist viel ritterlicher alsdu, Klemens. Da geht er mit diesem unsäglichen Menschen, mit diesemFrauenzimmer[S. 3] von einem Gymnasiasten. Es hätte doch viel besser gepaßt,wenn der statt meiner ein Mädchen geworden wäre.“
„Ja, Leonore, es ist schade, daß du ein Mädchen bist. Mußt einmalheiraten und so — das ist wirklich schade um dich.“
„Zum Heiraten werden doch nur die Prinzessinnen gezwungen, Klemens.“
„Aber weißt du, wenn die Mädchen ein gewisses Alter haben, dann istes nicht hübsch, sie bleiben ohne Mann. Weil man ihnen doch dieBeweggründe dafür nicht ansieht. Viele mögen das mit den kleinenKindern nicht, das ist begreiflich, völlig begreiflich. Ich möchte esauch nicht.“
„Meinst du vielleicht, alte Junggesellen sind netter als alte Jungfern?“
„Darüber habe ich mich noch nicht besonnen; wenn ich einmal alt bin,möchte ich wohl Söhne haben.“
„Wenn nur die Konfirmation vorbei wäre; weißt du, der hiesige Pastor,der