Agnes Günther
5.-8. Tausend
Marburg an der Lahn
Verlag der Christlichen Welt
Am 16. Februar 1906, gerade fünf Jahre vordem Tode der Dichterin, ist ein Schauspiel „DieHexe“ von Agnes Günther über eine Liebhaberbühnegegangen. Darin war ein Ausschnitt auseinem ursprünglich episch aufgefaßten Stoff dramatischgestaltet. Aber bald darauf begann die Rückbildungdieses Stoffes ins Epische; die nachfolgendenBruchstücke liegen auf dem Weg zur epischenForm, deren Vollendung der Verfasserin nicht mehrvergönnt war. Sie sind im Jahr 1906 in der„Christlichen Welt“ erschienen, und obwohl siekeine Szenen aus dem Drama selbst wiedergeben,stehen sie diesem zeitlich doch so nahe, daß diedialogische Form in ihnen beibehalten ist.
Das Problem der „Heiligen“ hat die Dichterinauch hier beschäftigt, wie sie in ihrem Werke „DieHeilige und ihr Narr“ unter dem Schleier der Dichtungdie Geschichte von der Reinigung der Seeleerzählt hat. Die Freunde jenes Werkes werdenauch zu diesem Büchlein greifen wollen; sie ahnendann etwas von dem, was die Frühverstorbene nochzu sagen vermocht hätte. Jene schmerzdurchzittertenund doch so sieghaften Worte vom Leiden, demstarken Freudenwein der Ewigkeit, sind an ihremSarge auf sie selbst gedeutet worden. Nun gehensie noch einmal aus und finden vielleicht da oderdort ein Herz, das sie trösten. Denn „Wie Giselamit Leiden stritt“ — das ist ein Stück aus derHerzensgeschichte der Menschheit.
Marburg, den 9. November 1913
Rudolf Günther
Ich wohne in einem Waldlande, in dem esviele alte Schlösser gibt. Keine Ruinen, das ist ebendas Besondere, sie sind alle wohl erhalten und liebevollgepflegt. Jedes dieser Schlösser hat viel erlebt— sie alle haben den Jammer des dreißigjährigenKrieges an sich vorüberrauschen hören — sie sahenein kümmerliches deutsches Leben wieder erstehen —sie wissen viele, viele Geschichten, die alten Schlösser.Darum liebe ich sie auch so sehr.
Keines aber liebe ich mehr als ein vergessenesWaldschloß, das ich Schweigen nennen will. Es isteine Burg mit Palas und Bergfried und äußeremund innerem Schloßhof. Im äußeren Schloßhofsteht eine herrliche Linde, von einer Brustwehr umgeben,von der man hinunter sieht in grüne Tälerund hinüber an blaue Waldberge. Auch ein Brünnleinsingt dort sein eintöniges Lied. Die Linde istsehr alt, gewiß dreihundert Jahre, sie rauscht soseltsam, diese Linde, die weiß auch Geschichten. Iminnern Schloßhof ist eine schöne Pforte und darüberein in Stein gehauenes Wappen. Von ihr aus führteine Treppe in die oberen Stockwerke. An den geweißtenWänden hängen schwarzdunkle Bilder,mächtige Hirschgeweihe dräuen von jeder Wendungherunter. Oben ist ein Vorraum, in den die verschiedenenTüren münden. In der Mitte steigt dunklesBalkenwerk in die Höhe, das die Decke trägt.Um die dicken Holzsäulen geht ein Bänkchen. Dawartete wohl einmal Jemand.
Gleich die erste Türe, in die ich hineingehe —und ich gehe oft hinein, und am liebsten allein mitder Försterin, die das Schloß verwaltet, — führt inein Schlafgemach. Alle, die das Bett sehen in demvergessenen Waldschloß, staunen über diese Prachtder seidene