Zwei Novellen
von
Grethe Auer
Egon Fleischel & Co. / Berlin / 1919
Alle Rechte, besonders das
der Übersetzung, vorbehalten
Amerikanisches Copyright 1919
by Egon Fleischel & Co., Berlin
Mit der ersten Auflage dieses Werkes
wurden fünfzig Exemplare auf
Büttenpapier gedruckt und von der
Verfasserin numeriert und gezeichnet
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Gabrielens Spitzen | 1 |
Die Tugend der Sabine Ricchiari | 77 |
Die Frau, von der ich jetzt erzählen will,war eines Schreibers Tochter in einer rheinischenStadt, in der die Üppigkeit eines kleinenFürstenhofes, Kunstsinn einer altangesessenenund wohlhabenden Bürgerschaft und natürlicheLeichtlebigkeit und Anmut der unterenBevölkerungsschichten zusammenwirkten, umeinen für jene Zeit bedeutenden Grad vonSinnenkultur hervorzubringen. Es habenMänner aus jener Stadt später oft führendeStimmen im Rat der hohen Kunst besessen; ofthat sie Feldherren gestellt in den Kampf einesneuen Kunstgedankens gegen einen alten. Dochdas tut nichts zur Sache. Was uns angeht – injenem ersten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts– ist nur eine gewisse Feinheit und Freiheitder Lebensauffassung, eine gewisse Veredlungalles Trieblebens durch echtes Schönheitsempfinden,die durch alle Schichten derBevölkerung zu bemerken waren und die eseinem armen Schreiberskinde ermöglichten, eineKünstlerin zu sein.
Im Hause des Schreibers herrschte bei einervielköpfigen Familie und einfachster Lebensführungdurchaus kein Mangel irgendwelcherArt. Die nüchterne Kost genügte stets für alle,ein bescheidener Leckerbissen krönte die Feiertage,und ein zufälliger Gast fand immer freundlicheBewirtung. Das wenige Hausgerät, obzwarschlicht und derb, war stets in gutem Zustande,wozu die liebevolle Behandlung, dieihm von allen Seiten zuteil ward, nicht wenigbeitrug. Da jedes Stück selbst erworben, langerstrebt und mühsam in langen Raten bezahltwar, so verkörperte es gleichsam ein paar JahreLebensgeschichte des Erwerbers, besonders,wenn noch eigene Kunstfertigkeit hinzutrat, dieden Wert des Gerätes erhöhte. So war daseigengesponnene Linnen der Betten durcheigengeklöppelte Spitzen bereichert, in denenalle Feierabende und Sonntagnachmittagesämtlicher Frauen der Familie Gestalt gewonnenhatten; die Mußestunden der Männerhatten sich in sinnreiche Bemalung der tannenenSchränke und Truhen, in leichtes Schnitzwerkan Bettleisten und Stuhllehnen umgesetzt;und die Glorie einer frohen Erinnerung,der Wehmutsschleier einer trüben schwebten und webten über jedem Dinge. Noch wurdenWohnungen nicht gewechselt, Hauseinrichtungennicht fertig gekauft, schnell abgenutzt, erneutund getauscht nach Belieben. Sie entstandenunter den Schicksalen der Menschen, trugenihren Stempel und überlebten sie als Denkmälerihres Wesens.
Wie alle Glieder der Schreibersfamilie andem Bau, der