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SCHRIFTEN ZUR ANGEWANDTEN SEELENKUNDE
herausgegeben von Prof. Dr. SIGM. FREUD
ERSTES HEFT
VON
Prof. Dr. SIGM. FREUD
WIEN
WIEN UND LEIPZIG
HUGO HELLER & CIE.
1907
K. u. K. Hofbuchdruckerei Karl Prochaska in Teschen.
In einem Kreise von Männern, denen es als ausgemachtgilt, daß die wesentlichsten Rätsel des Traumes durch dieBemühung des Verfassers(1) gelöst worden sind, erwachte einesTages die Neugierde, sich um jene Träume zu kümmern, dieüberhaupt niemals geträumt worden, die von Dichtern geschaffenund erfundenen Personen im Zusammenhange einer Erzählungbeigelegt werden. Der Vorschlag, diese Gattung von Träumeneiner Untersuchung zu unterziehen, mochte müßig und befremdenderscheinen; von einer Seite her konnte man ihn alsberechtigt hinstellen. Es wird ja keineswegs allgemein geglaubt,daß der Traum etwas Sinnvolles und Deutbares ist. Die Wissenschaftund die Mehrzahl der Gebildeten lächeln, wenn manihnen die Aufgabe einer Traumdeutung stellt; nur das amAberglauben hängende Volk, das hierin die Überzeugungendes Altertums fortsetzt, will von der Deutbarkeit der Träumenicht ablassen, und der Verfasser der Traumdeutung hat esgewagt, gegen den Einspruch der gestrengen WissenschaftPartei für die Alten und für den Aberglauben zu nehmen.Er ist allerdings weit davon entfernt, im Traume eine Ankündigungder Zukunft anzuerkennen, nach deren Enthüllungder Mensch seit jeher mit allen unerlaubten Mitteln vergeblichstrebt. Aber völlig konnte auch er nicht die Beziehungdes Traumes zur Zukunft verwerfen, denn nach Vollendungeiner mühseligen Übersetzungsarbeit erwies sich ihm der Traumals ein erfüllt dargestellter Wunsch des Träumers, undwer könnte bestreiten, daß Wünsche sich vorwiegend der Zukunftzuzuwenden pflegen.
Ich sagte eben: der Traum sei ein erfüllter Wunsch. Wersich nicht scheut, ein schwieriges Buch durchzuarbeiten, wer nicht fordert, daß ein verwickeltes Problem zur Schonung seinerBemühung und auf Kosten von Treue und Wahrheit ihmals leicht und einfach vorgehalten werde, der mag in der erwähnten»Traumdeutung« den weitläufigen Beweis für diesenSatz aufsuchen und bis dahin die ihm sicherlich aufsteigendenEinwendungen gegen die Gleichstellung von Traum undWunscherfüllung zur Seite drängen.
Aber wir haben weit vorgegriffen. Es handelt sich nochgar nicht darum, festzustellen, ob der Sinn eines Traumes injedem Falle durch einen erfüllten Wunsch wiederzugeben sei,oder nicht auch ebenso häufig durch eine ängstliche Erwartung,einen Vorsatz, eine Überlegung u. s. w. Vielmehr stehterst in Frage, ob der Traum überhaupt einen Sinn habe, obman ihm den Wert eines seelischen Vorganges zugestehensolle. Die Wissenschaft antwortet mit Nein, sie erklärt dasTräumen für einen bloß physiologischen Vorgang, hinter